2019 feierte die Welt den 250. Geburtstag von Alexander von Humboldt. Doch feierte sie ihn auch gebührend? Diese Frage stellt sich mir vor allem nach dem Lesen der Biografie „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ von Andrea Wulf.
Ich muss sagen, dass ich von diesem Jubiläum wohl nicht viel mitbekommen hätte, wären nicht zu diesem Anlass im Vorfeld bereits verschiedene Bücher zu und über Alexander von Humboldt erschienen. Eines davon ist vor zwei Jahren auch in meinem Bücherstapel gelandet. Und lag bis vor kurzem ungelesen in meinem Regal. Ausgestattet mit diversen Preisen und von der New York Times unter die „10 Best Books of 2015“ gewählt, erschien es mir dann als idealer Challenge-Einstieg in „terrae incognitae“.
Schon im Prolog nimmt uns die Autorin mit in unbekanntes Land und lässt uns mit Humboldt und seinen Reisegefährten den Chimborazo besteigen. Aber dieser Prolog ist – rückblickend – weitaus mehr als ein Einstieg in die Entdeckungsreisen des Alexander von Humboldt. Er ist zugleich Ausblick auf die folgenden 400 Seiten, Rückblick auf das Leben und Wirken des zu seiner Zeit weltberühmtesten Mannes und bietet auf zehn Seiten eine Zusammenfassung der kompletten Biografie.
Humboldt – Naturforschender und Entdeckungsreisender, und doch noch so viel mehr: Inspirator für Wissenschaftler, Künstler und Denker gleichermaßen, Kosmopolit mit enormem Weitblick, anerkannt in der ganzen Welt, ansteckend in seinem Enthusiasmus für die Natur und den südamerikanischen Kontinent, rastlos, seiner Welt weit voraus in seinem Denken, großzügig zu Wissenschaftlern, aber auch von sich eingenommen und bisweilen arrogant seinen Mitmenschen gegenüber. Nach und nach knüpft Andrea Wulf die einzelnen Fäden zusammen und spinnt so nicht nur ein Bild von Humboldt allein, sondern lässt uns eintauchen in die Zeit, in der Humboldt lebte und wirkte. Sie stellt seine Ideen, Reisen und Entdeckungen in den Zusammenhang mit den politischen und gesellschaftlichen Begebenheiten der damaligen Zeit. Die Zeit der französischen, aber auch der deutschen und der südamerikanischen Revolution, die Zeit von Thomas Jefferson, aber auch die Zeit der Sklaverei, des britischen Empire und des deutschen Kaiserreichs. Die Zeit von Goethe und Schiller, von Darwin und Thoreau, die Zeit von vielen anderen Wissenschaftlern, die bis heute in unsere Zeit hineinwirken.
Ganz in der Tradition von Humboldt, der eine Verbindung zwischen allen Teilen der Natur sah und versuchte, Menschen interdisziplinär zusammenzubringen, ist dieses Buch geschrieben. Die nicht erst seit Daniel Kehlmanns „Vermessung der Welt“ bekannte Südamerikareise Humboldts füllt nicht einmal ein Viertel des Buches. Und es sind die verbleibenden 300 Seiten, die diese Biografie zu einer wahren Perle machen. Wer weiß heute noch, dass Simon Bolivar durch die Veröffentlichungen und Beschreibungen Humboldts einen neuen Blick auf seine südamerikanische Heimat bekam und Humboldt so indirekt zum Auslöser der südamerikanischen Revolution wurde? Wer weiß, dass er in Briefkontakt mit Thomas Jefferson stand? Wer weiß, dass Goethes Faust starke Ähnlichkeiten mit Humboldt aufweist? Wer, dass Humboldts Naturansichten und Lateinamerika-Beschreibungen in die englische Literatur und Dichtung einflossen und sogar Frankensteins Monster sich in die Urwälder Südamerikas wünscht – vier Jahre nach Erscheinen der englischen Ausgabe der „Reise in die Aequnoctial“? Wer weiß, dass Humboldt Erfinder der Isotherme, die wir allabendlich auf den Wetterkarten sehen, ist? Wer weiß, dass Humboldts „Personal Narrative“ der Grund für Darwin war, mit der Beagle in See zu stechen und dass dieses Buch in seinem Gepäck mitreiste? Wer weiß, dass sein „Kosmos, Versuch einer physischen Weltbeschreibung“ unter anderem Ralph Waldo Emerson und Walt Whitman inspirierten? Und dass Henry David Thoreaus „Walden“ dessen Antwort auf auf eben jenen „Kosmos“ ist?
Humboldt: Kosmopolit und freiheitlicher Denker und zugleich Angestellter im Dienste des preußischen Königs. Ein Spagat, den es für ihn zu bewältigen galt. Der erste Mensch, der vor den Folgen der durch den Menschen verursachten Klimawandel warnte, einer derjenigen, die früh schon Abholzung der Regenwälder und Monokultur kritisch bewertete. Ein eiserner Wille, Experimente am eigenen Körper, lange strapaziöse Reisen, Briefwechsel mit Wissenschaftlern der ganzen Welt – nur eines blieb Humboldt verwehrt: Eine Reise nach Indien, um den Himalaya zu erkunden. Eine Tatsache, die mich am Ende meiner Reise durch die Zeit und durch für mich mehrere „terrae incognitae“ als vor der Lektüre gedacht führte, traurig stimmt. Ich hätte Humboldt eine Reise in den Himalaya mehr als gegönnt.
Und nicht nur ihm, sondern auch uns würde ich wünschen, dass seine Leistungen in den letzten 100 bis 150 Jahren nicht so sehr in Vergessenheit geraten wären. Er hätte es verdient, auch heute noch in seiner Gesamtheit und nicht nur als Entdecker gewürdigt zu werden.
Eine klare Leseempfehlung für alle Naturliebhaber und naturwissenschaftlich und historisch interessierten Leser!
Andrea Wulf,
Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur
Bertelsmann Verlag, München